Camino. Mit dem Herzen gehen

 

Birgit Kelle zieht einfach los. 300 Kilometer zu Fuß, als Frau allein im Winter auf dem Jakobsweg bis nach Santiago de Compostela. Was sie dabei erlebt, erzählt sie in ihrem neuen Buch «Camino. Mit dem Herzen gehen». Ein Auszug aus dem Buch.

Ich hatte vergessen, wie gut eine Tomate schmecken kann. Süß und fleischig, einfach mit etwas Salz bestreut und danach den übrigen Saft auf dem Teller mit der Zunge ablecken, so wie früher als Kind. Für 80 Cent erstanden in einem kleinen Lebensmittelladen am Wegrand, hatte ich sie zwei Tage lang behutsam verpackt in meinem Rucksack mitgeschleppt bis zu diesem Moment in der Gemeinschaftsküche meiner Unterkunft. Stilles Glück.

Nach 28 Kilometern zu Fuß war ich fast weinend in der Herberge angekommen. Ich konnte das Haus schon sehen und musste trotzdem noch einmal Pause machen, mich hinsetzen. Keinen Schritt weiter. Die letzten Meter jeder Schritt ein Kampf. Gegen die Tränen und gegen die Füße. Jetzt endlich aus den nassen Schuhen raus, etwas essen und vor allem: Heute nur noch den Weg bis in mein Bett humpelnd schaffen müssen. Ein großartiger Gedanke. Es ist Tag vier auf meinem Weg auf dem Camino Francés durch die Berge von León.

Seit vielen Jahren begleitet mich der Gedanke, den Jakobsweg zu gehen. Seit genau so vielen Jahren fanden sich immer genug Gründe, es nicht zu tun. Die Kinder, die Arbeit, keine Zeit, jetzt schon mal gar nicht.

Dann die spontane Erkenntnis, dass ich mit dieser Methode ziemlich alt werde, ohne jemals dort gewesen zu sein. Dass mich dieser Weg ruft, schon sehr lange. Dass er geduldig wartet und ich aufbrechen muss, noch dieses Jahr. Ich muss mich auf den Weg machen. Meinen Weg. Unbedingt.

Ich finde in meinem vollen Kalender nur das Zeitfenster vor Weihnachten und gebe mir selbst im Advent zwei Wochen frei für die letzten 300 Kilometer bis nach Santiago de Compostela. Am liebsten würde ich gerne mal ganz abhauen, den ganzen Weg gehen, aber dafür bräuchte ich dann drei Monate. Das geht nun wirklich nicht. Ich habe Kinder, ich muss arbeiten, ich kann nicht alles stehen und liegen lassen. Aber diese zwei Wochen, die werde ich mir einfach nehmen.

Der innere Schweinehund hat dennoch viele Stimmen. Du hast doch sowas noch nie gemacht. Du hast keine Ausrüstung, kein Training. Und dann als Frau allein, ausgerechnet im Winter? Ist das denn sicher?

Nicht nur ich selbst, auch manche Freunde begegnen meinen Plänen mit Skepsis und Bedenken. Ich kann zusätzlich das gesamte Repertoire des schlechten Gewissens herunterrattern. Es ist doch Advent, du solltest jetzt Plätzchen backen für die Kinder, Lichterketten aufhängen und Geschenke besorgen. Soll es nicht diese besinnliche Zeit sein, in der wir alle auf die Ankunft des Herrn warten? War das Jahr nicht schon anstrengend genug, musst du jetzt auch noch Hunderte von Kilometern Berge hoch und runter marschieren? Bist du nicht schon müde genug? Ich weiß gar nicht, ob mir andere mehr im Weg stehen – oder ich mir selbst. Die etablierten Vorstellungen und Erwartungshaltungen darüber, was man so tut und was nicht, sind auch in mir tief verwurzelt.

Fast trotzig wehre ich standhaft alle Einwände ab. Advent hin oder her, ich werde dem Herrn dann dieses Jahr eben entgegengehen müssen. Wird er auch ein Stück mit mir gehen? Ich weiß nicht, ob wenigstens Gott Zeit hat, wenn die meine schon so knapp bemessen ist. «Ganz sicher wird noch irgendetwas geschehen, damit Sie denken, Sie könnten nicht fahren und müssten absagen. Das ist völlig normal, beachten Sie es einfach nicht», hatte mir ein befreundeter Priester lapidar und lachend als guten Rat ein paar Wochen vor dem Start präventiv mit auf den Weg gegeben, damit ich standhaft bleibe, sollten sich kurz vor Abreise noch ein paar Apokalypsen ereignen, ein paar Kinder krank werden oder ein paar Beine gebrochen sein. Der echte Pilger geht auch mit Krücken.

Und dann gibt es keine Ausreden mehr. Ich sitze im Flieger nach Spanien. Es fühlt sich immer noch surreal an. Wahrscheinlich werde ich es erst glauben, wenn ich wirklich da bin und die ersten Kilometer hinter mir liegen, dass ich jetzt wirklich zwei Wochen auf Wanderschaft sein soll.

Aus der Hektik eines langen Jahres erwartet mich – ja, was eigentlich? Ich weiß selbst nicht genau, was ich suche. Genau genommen versuche ich sogar, meine eigene Erwartungshaltung herabzuschrauben. Versuche, gar nichts zu erwarten, mir nichts vorzustellen, um der Enttäuschung vorzubeugen, dass nicht das eintritt, was ich mir ausgedacht oder gar erhofft hatte. Ich will nicht mit Ansage in die Falle rennen, sondern offen sein für alles und jeden, der meinen Weg kreuzen wird. Offen sein für alles, was kommen mag, auch für das, was ich vielleicht gar nicht suche.

Für das, was mich findet.

Einfach ist das nicht. Ich weiß wirklich gerne, was kommt. Habe die Fäden gerne selbst in der Hand. Mein normaler Alltag mit Beruf, Haushalt und vier Kindern erfordert so viel Planung und Struktur, damit ich alles schaffe, was zu tun ist. Selbstdisziplin. Kontrolle. Es ist fester Bestandteil meines Lebens. Jetzt hatte ich mir selbst unverplante Zeit verordnet. Genommen. Dem Alltag abgerungen. Weil ich instinktiv gespürt hatte, dass ich es brauche.

Jeder hat doch in Wahrheit sehr konkrete Gründe, warum er sich auf so einen Weg macht. Krisen, Probleme, Erschütterungen. Manchmal müssen sie erst sehr groß werden, damit wir den ersten Schritt wagen und das Neue trotzdem angehen, selbst dann, wenn wir nicht wissen, wohin es führt.

«Wir gehen nie in die Freiheit, sondern immer ins Ungewisse.» Ich weiß nicht mehr, in welcher Geschichte ich diesen so wahren Satz vor einer Weile gelesen hatte. In meinem Ringen um Veränderung, um Aufbruch, kam er mir wieder in den Sinn. Er hatte sich in meinen Kopf eingebrannt, weil er mich so viel hat verstehen lassen. Über mich, über andere, selbst über die große Politik. Weil genau genommen die gesamte Menschheitsgeschichte voll ist mit dem Verharren in der «selbstverschuldeten Unmündigkeit» nach Kant, in der Bevormundung, der Unterdrückung, der körperlichen und geistigen Unfreiheit. In der Bequemlichkeit.

Selbst der liebe Gott hatte Schwierigkeiten, das Volk Israel aus der Sklaverei in die Freiheit zu führen. Die Bedenkenträger hatten schon beim Auszug aus Ägypten Hochkonjunktur. Weil wir in Wahrheit nämlich nicht in die Freiheit aufbrechen, ins gelobte Land, auf einen schönen Weg, eine interessante Reise, einen neuen Lebensabschnitt, einen neuen Job, eine neue Beziehung. Man kann sich in der Unzufriedenheit wunderbar einrichten, auch mental, wenn die Angst vor Veränderung groß genug ist. In Wahrheit gehen wir nie in die Verheißung der Freiheit, sondern gefühlt in die latente Bedrohung des Ungewissen.

Ganz abschütteln kann ich meine Erwartungen an diese Wanderschaft dennoch nicht. Man sagt, Wanderer gehen los, Pilger brechen auf. Bei mir brechen vor allem schon im Flieger erst einmal die Augen auf. Seit Tagen unterdrücke ich meine Tränen, es ist, als hätte ich mich wie ein Marathonläufer die letzten Meter bis über die Ziellinie geschleppt, um dann zusammenzubrechen. Ich habe mich selbst in diesen Flieger gerettet, und jetzt ist endlich Zeit, um all das zu beweinen, wofür nie Zeit war. Wahrscheinlich werde ich tagelang heulen. Dann ist es eben so. 

Hoffnung. Ich verspüre auch Hoffnung, sehne sie herbei. Hoffnung auf Ruhe, auf Zeit, auf Freiheit, das Loslassen von Verpflichtungen und Problemen, auf den Raum, um manche unfertigen Gedanken endlich zu Ende zu bekommen. Hoffnung – das Einzige, das größer ist als Angst.

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